Gewaltfreiheit als Liebe

Mit Bezug auf einige ‚Große Namen‘ der Gewaltfreiheit buchstabiere ich in diesem Text aus, was Gewaltfreiheit in ihrer Tiefe ist.

Trauen wir uns, Gewaltfreiheit mit ‚Liebe‘ zu übersetzen. Dann lenken wir den Blick darauf, dass Gewaltfreiheit eine uns angeborene, zutiefst mit unserer Menschlichkeit verbundene Fähigkeit ist.

Gewaltfreiheit ist die uns Menschen innewohnende Kraft, uns aus der Verbundenheit heraus für das Wohl und die Würde aller Wesen einzusetzen

Als ‚Liebe‘ erkennen wir sie überall um uns herum: Als Fürsorge für die unseren oder Fremde, als Freundlichkeit, Zuwendung, Unterstützung aber auch als wertschätzende Kritik oder Friedensangebot in einem Konflikt. ‚Gewaltfreiheit‘ nennen wir sie eher dann, wenn Gewalt als Option im Raum steht – vor allem in Konflikten. Aber in beiden Fällen ist es die gleiche Kraft.

Die Kraft der Gewaltfreiheit steht uns prinzipiell immer zur Verfügung

Leider haben wir durch die Art von Sozialisation, die die meisten von uns erfahren haben, und durch bestimmte Überlebensmechanismen wie Kampf-Starre-oder-Flucht bei existentiellen Bedrohungen gelernt zu glauben, dass unsere Kraft zur Gewaltfreiheit Grenzen hat. Das stimmt aber so nicht. Wenn wir die Kraft bewusst entwickeln und in uns reifen lassen, wird sie unser ganzes Handeln durchdringen und uns auch und gerade in Konflikten in immer höherem Maße zur Verfügung stehen. Wir können damit beginnen, dass wir eine spitze Bemerkung herunterschlucken, die uns auf der Zunge liegt, und statt dessen etwas Ehrliches oder Einfühlsames sagen. Und wir können so weit kommen wie schwarze Menschen auf einem Protestmarsch 1963 in Birmingham, Alabama: Inspiriert durch die Absicht ‚unsere Freiheit zu erringen und während wir das tun … unsere weißen Brüder [sic.] zu befreien‘ – so formulierte es einer ihrer Führer – wurden sie unerwartet von einer Reihe Polizisten und Feuerwehrleute mit Hunden und Wasserschläuchen blockiert. Sie knieten nieder um zu beten. Nach einer Weile standen sie auf und wie auf ein gemeinsames Signal marschierten sie stetig auf die Polizisten und Feuerwehrleute zu. Einige von ihnen sagten, sobald sie in Hörweite waren: „Wir kehren nicht um. Wir haben nichts Falsches getan. Alles was wir wollen ist unsere Freiheit. Wie fühlt Ihr Euch, wenn Ihr diese Dinge tut?“ Auch wenn der Polizeiführer wiederholt rief: „Wasser marsch!“ blieben die Hände der Feuerwehrleute wie eingefroren. Die Marschierenden gingen stetig weiter, direkt zwischen den Linien der Feuerwehr und Polizei. Einige der Beamten sah man weinen. (So erzählt von Michael Nagler in „The Nonviolence Handbook“, frei übersetzt von mir)

Ich denke, dass diese Art von Beispiel Marshall Rosenberg vor Augen stand, wenn er uns zur Bewusstheit über unsere Wahlfreiheit in jedem Moment aufforderte und zu Ehrfurcht und Begeisterung einlud, angesichts unserer enormen Kraft, das Leben zu bereichern. Er sagt: „Wir sind enorm machtvolle Wesen. In jedem Moment.“ Oder in Gandhis Worten: „Gewaltfreiheit ist die größte Kraft mit der die Menschheit ausgestattet wurde“ (zitiert nach Nagler).

Wir haben immer die Wahl, gewaltfrei zu handeln

Um unsere Kraft so weit oder noch weiter zu entwickeln, brauchen wir das Bewusstsein unserer Wahlfreiheit in jedem Moment. Das heißt das Bewusstsein, dass wir zwar vor Entscheidungen gestellt werden können, die uns nicht gefallen. Dass aber kein äußerer Umstand uns im engen Sinne zwingen kann, uns nicht für Gewaltfreiheit zu entscheiden. Die Protestierenden in Alabama hätten in einer verbreiteten Logik gemäß mit Fug und Recht sagen können: Hier sind wir mit unserer Gewaltfreiheit an unserer Grenze angelangt. Aber sie haben sich für das Risiko entschieden, physische Gewalt zu erleiden oder inhaftiert zu werden.

Wir sind mit allen anderen Wesen verbunden. Das heißt: Alle Menschen haben dieselben Bedürfnisse (und sehr viele teilen wir sicher mit sehr vielen weiteren Wesen) Und: Wir sind in unserem Wohlergehen alle von einander abhängig

Um unsere Kraft so weit oder noch weiter zu entwickeln, brauchen wir weiterhin das Bewusstsein unserer Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit mit allen anderen Wesen, auch unseren Gegner*innen im Konflikt. Unsere Verbundenheit sehen wir einerseits daran, dass wir durch Einfühlung herausfinden können, dass selbst Menschen die Strategien anwenden wie Foltern oder Morden die selben Bedürfnisse haben wie ich und alle anderen. Der zweite Aspekt ist der, dass unser Wohl in der Tiefe abhängig ist vom Wohl aller anderen. Michael Nagler schreibt: „wenn jemand uns mit Gewalt bedroht fühlt er oder sie ein kleines Ziehen der Scham dafür, diese Methode zu benutzen, wenn vielleicht auch nur unbewusst“ (Nagler, Nonviolence Handbook) – so verletzt die Person nicht nur mich sondern auch sich selbst. Ich merke in mir selbst, besonders wenn ich mich in der Meditation mit meinen Gefühlen und Bedürfnissen verbinde, dass ich mich nur dann vollständig wohl und zentriert fühle, wenn ich ein grundsätzliches ‚Ja‘ für das Leben und alle Wesen habe. Sobald ich meine Verbundenheit abschneide, fühle ich in mir Scham, Lähmung, Blockade, Kälte und negativen Stress. Ich bin deshalb sicher, dass jeder ‚Vorschuss‘ an Wohlwollen, den ich meinen ‚Gegnerinnen‘ gebe, mich zwar Anstrengung kosten mag, aber mir mindestens so viel Gutes tut wie ihnen. Oder gehen wir mit Marshall Rosenberg auf die Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse: „Ich bin davon überzeugt, dass unter den politischen und wirtschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, alle leiden. Von außen mag es so aussehen, als gäbe es Gewinner und Verlierer. Doch diejenigen, die das meiste Geld verdienen, zahlen bitter dafür: in psychischer und spiritueller Hinsicht. Jemand, der viel Reichtum auf Kosten anderer angehäuft hat, lebt in einer Welt, in der es hauptsächlich um Geld geht. Was ist das für ein Leben? Es mag noch so nett sein, aber im Grunde entspricht es nicht unseren Bedürfnissen.“ (Rosenberg, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation) Martin Luther King Jr. formulierte es so: „Wir sind in einem Netz wechselseitiger Beziehungen gefangen, aus dem wir nicht mehr entrinnen können. Uns alle hüllt dasselbe Gewand des Schicksals ein. Was den einen unmittelbar berührt, berührt mittelbar auch alle anderen.“ (Brief aus dem Gefängnis in Birmingham)

Gewaltfreiheit ist ein Kern unserer Menschlichkeit: Sowohl unser tiefstes Bedürfnis als auch unser größtes Potential

Auf eine bedeutsame Weise ist Gewaltfreiheit oder Liebe also das, was den Kern unserer Menschlichkeit ausmacht. Die Aussagen von Menschen, die als Soldat*innen gekämpft haben, weisen uns z.B. darauf hin, dass sie das Empfinden haben, ihre Menschlichkeit oder ihre ‚Seele‘ verloren zu haben. Für mich zeigen die Beispiele in diesem Text (oben und unten), dass wahre menschliche Größe in der Gewaltfreiheit bzw. der Liebe liegt. Dabei ist es für jeden Mensch sowohl tiefstes Bedürfnis, in liebevollen/gewaltfreien Beziehungen zu sein, als auch die größte Verwirklichung ihres oder seines Potentials. Gandhi sagte schlicht: „Nonviolence is the law of our species“.

Gewaltfreiheit hat eine spirituelle Dimension

Gewaltfreiheit hat durch ihren Bezug auf die Verbundenheit aller Wesen und das Vertrauen darauf, dass alle Probleme prinzipiell mit Bezug auf alle Bedürfnisse gelöst werden können gleichzeitig eine spirituelle Dimension. Hierin liegt eine Kraftquelle. Wir können sie beispielsweise nutzen und uns stärken, indem wir Dankbarkeit praktizieren und unsere Aufmerksamkeit auf die allgegenwärtigen Bedürfnisse und ihre Schönheit richten.

Unsere eigene Liebe/Gewaltfreiheit weckt einen ähnlichen Impuls in unserem Gegenüber

Die Kraft der Gewaltfreiheit als Liebe erstreckt sich nicht allein darauf, dass wir für uns selbst bestimmen, welches Spiel wir spielen, sie wirkt auch auf unser Gegenüber. „Liebe ist eine Macht, die Liebe erzeugt.“ (Fromm, Die Kunst des Liebens) Wenn wir genau hinschauen, verstehen wir, dass unsere Liebe und Gewaltfreiheit auch in Konflikten, die bereits einigermaßen eskaliert sind im Gegenüber die Menschlichkeit weckt. So erkläre ich die Reaktion der Feuerwehrleute oben. Hier kommt ein weiteres Beispiel aus einer sehr eskalierten Situation. Der damals 15 jährige weiße David Hartsough, heute ein bekannter Friedensaktivist, saß in einem Mittagslokal in Virginia, um rassistische Diskriminierung zu durchbrechen. Nach anderthalb Tagen ohne Essen wurde er plötzlich von seinem Hocker gezogen und von einem aufgebrachten weißen Mann bedroht, der ein Messer an seine Brust hielt und sagte: ‚Also, N…..-freund, du hast eine Minute um hier raus zu kommen, bevor ich dir das ins Herz steche.‘ David blieb ruhig (er hatte für sich selbst seit Stunden das Vater Unser rezitiert). Während er versuchte, trotz dessen Hass dem Mann in die Augen zu schauen, hörte er sich sagen: ‚Bruder, du tust wonach dir ist, aber ich werde versuchen dich zu lieben, egal was es ist‘ Nach einem langen Augenblick, begann das Messer zu zittern. Dann ließ der Mann langsam seine Hand sinken und ging hinaus aus dem Mittagslokal. Einige Zuschauer bemerkten, dass er weinte (Nagler, Nonviolence Handbook, übersetzt frei von mir). Von Abraham Lincoln ist der Ausspruch überliefert „Der beste Weg, einen Feind zu zerstören, ist, ihn zu einem Freund zu machen“. Dies wird in dieser Situation zwischen David und dem Mann mit dem Messer vielleicht noch nicht passiert sein. Aber Davids Klarheit und Freundlichkeit haben mindestens die Einsicht in dem Mann geweckt, dass er kein Mörder sein wollte.

Frieden kann allein durch Gewaltfreiheit/Liebe erreicht werden, nie durch Gewalt oder Hass

Zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit besteht ein prinzipieller Gegensatz, nicht nur ein gradueller Unterschied. Wenn ich Frieden schaffen will, so schade ich meinem Ziel mit jeder auch ‚kleinen‘ gewalttätigen Aktion oder meinen hasserfüllten Gedanken, etc. Wenn ich eine gewaltfreie Handlung wähle trage ich immer zum Frieden bei, auch wenn ich an der Oberfläche den Erfolg vielleicht nicht (oder noch nicht) sehe.

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