Was kann ich zum sozialen Wandel beitragen?

Wie kann ich zu einem sozialen Wandel hin zu mehr Frieden in der Welt beitragen? Gehört mein persönliches Wachstum dazu? Oder sollte ich aufhören, mich um mich selbst zu kümmern und statt dessen etwas mehr in der Welt aktiv sein?

Solche Fragen bewegen immer wieder mich selbst und viele Menschen, mit denen ich im Kontakt bin. Lies hier, was Marshall B. Rosenberg über den Zusammenhang zwischen individueller Entwicklung und sozialem Wandel geschrieben hat.

Sozialer Wandel beginnt auf der persönlichen Ebene und geht dann darüber hinaus.

1) Innere Landkarte und Kompass neu ausrichten

Wir alle haben ein ‚inneres Bezugssystem‘ aus Sätzen darüber, was die Welt ist, wie Menschen sind und was man tun soll. Ich vergleiche das mit der Landkarte, die wir von der Welt malen. Gleichzeitig formt das Bezugssystem auch unsere innere Haltung. Sie ist so etwas wie der innere Kompass, also welchen Werte wir folgen und wie wir unseren Mitmenschen begegnen. All das wird von Generation zu Generation weitergegeben ist uns zunächst so vertraut sind, dass es unbewusst bleibt.

Weit verbreitete Sätze sind: „Es gibt gut und böse in der Welt“, „Es ist nicht genug für alle da“ oder „Menschen sind im Grunde egoistische Wesen, die durch Erziehung und Kontrolle erst einmal sozial passend gemacht werden müssen“. Wenn das meine Landkarte ist, wundert es nicht, dass mein Kompass auf solche Werte und Ziele zeigt wie „Besiege das Böse“, „Beweise, dass Du zu den Guten gehörst (und überhaupt ok bist)“, „Vertraue niemandem (nicht einmal Dir selbst)“ oder „Streng Dich an, damit Du selbst genug abbekommst“. Aus diesen Sätzen und dem daraus resultierenden Handeln entsteht ein Großteil der Gewalt, die wir gegenwärtig sehen.

Der erste und grundlegende Schritt hin zu gesellschaftlicher Veränderung ist, dass wir uns unserer zu Gewalt führenden kulturellen Prägungen bewusst werden und ein neues inneres Bezugssystem und eine neue innere Haltung entwickeln – Landkarte neu malen und Kompass anders ausrichten.

Denn die Gewaltfreie Kommunikation baut auf die humanistische Psychologie, die davon ausgeht dass Menschen von Grund auf zur Empathie fähige Wesen mit starken sozialen Bedürfnissen ebenso wie Bedürfnissen nach persönlichem Glück und Wachstum sind. Es bereitet Menschen Freude, zum Wohle anderer beizutragen, sofern ihnen wirkliche Freiheit dazu gelassen wird (also solange ihnen keine Strafe droht, wenn sie es nicht tun). Für die Erfüllung der meisten und wesentlichen Bedürfnisse – zum Beispiel Liebe, Bindung, Wertschätzung, Einbezogensein, sinnvolle Tätigkeit, Frieden aber auch Nahrung, Atemluft, Sicherheit – könnten auf der Welt mehr als genug Ressourcen gefunden werden. Die Landkarte hier zeigt im Unterschied zu der Landkarte oben kein ‚Mangel-Land‘, sondern ein ‚Land der Fülle‘.

In diesem Land ist ein anderer Kompass hilfreich. Der Kompass – die Haltung der Gewaltfreien Kommunikation – sagt: Richte Deine Aufmerksamkeit und Energie auf die Bedürfnisse aller Beteiligten. Es gibt keine Menschen oder Bedürfnisse, die wertvoller oder besser sind als andere (auch wenn wir mit ihrem Handeln nicht einverstanden sein mögen). Das Ziel der Gewaltfreien Kommunikation ist, alle Wesen und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und in jedes Handeln einzubeziehen und unter Menschen eine Beziehung der Partnerschaftlichkeit zu leben.

2) Andere einladen

Im zweiten Schritt geht es darum, andere ins ‚Fülleland‘ einzuladen und mit der Haltung der Gewaltfreien Kommunikation vertraut zu machen. Erzähle, wie Dein neuer Kompass für Dich funktioniert, was Dein Leben reicher macht. Dabei ist wichtig, bereits aus der Haltung heraus zu handeln. Das bedeutet zum Beispiel, von dem neuen Bezugssystem zu erzählen, ohne das alte zu verteufeln und ohne seine Anhänger als Spießer zu diffamieren. Das gilt, ob Du im Freundeskreis oder im Zug erzählst, ob Du Blogs oder Bücher schreibst, Vorträge und Seminare anbietest oder im Dialog mit jemandem bist, von dem Du Dir ein anderes Verhalten wünschst…

3) Neue Strukturen und Organisationen aufbauen

Was sind bedürfnisorientierte Organisationen? Wie arbeiten wir produktiv in Meetings zusammen? Wie sieht ein Umgang mit Macht aus, der nicht Macht über Menschen ausübt, sondern Macht mit Menschen erschafft?

In diesem Schritt geht es darum, Strukturen und Organisationen zu erfinden und zu realisieren, die der Haltung der Gewaltfreien Kommunikation entsprechen. Baue Strukturen und Organisationen auf, die der Erfüllung von Bedürfnissen zu dienen. Dabei zählen nicht nur menschliche, sondern ebenso die Bedürfnisse aller anderen Wesen. Geld (ebenso wie Status) wird in solchen Organisationen als Hilfsmittel zur Bedürfnisbefriedigung eingesetzt. Aber nicht als Motivation der Arbeit. Die Arbeit ist motiviert durch die Freude an der Erfüllung von Bedürfnissen. Gleichzeitig sind die Organisationen und Strukturen so, dass die die Menschen darin echte Wertschätzung und ernsthafte Dankbarkeit erhalten.

4) Erziehung und Ausbildungsstrukturen verändern

Das Plädoyer Rosenbergs lautet: Richtet die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern und das Erziehungssystem so aus, dass die nächste Generation bereits in der Fülle und der neuen Haltung aufwachsen kann. Das bedeutet beispielsweise, Schulen (oder Schulalternativen) zu entwickeln, in denen Kinder und Jugendliche die volle Wertschätzung ihrer Person mit allen Bedürfnissen erfahren. Dadurch können sie die gleiche Wertschätzung auch für sich selbst und andere entwickeln. In diesen Schulen stehen kooperative Beziehungen im Zentrum, die die Freiwilligkeit grundlegend achten. Ebenso können wir unsere Aufmerksamkeit als Eltern, Paten, Großeltern und alle anderen Bezugspersonen darauf ausrichten, unseren Kindern diese Achtung ihrer Menschlichkeit von Anfang an zuteil werden zu lassen und sie langsam in eine Selbstverantwortung für ihre Bedürfnisse hineinwachsen zu lassen. Im Bereich der ‚Erziehung‘ ist der Wandel hin zur vollen Würdigung des Kindes als Mensch bei gleichzeitiger Verantwortungsübernahme der Erwachsenen, also das neu-Schreiben der Landkarten und die Neuausrichtung des Kompasses vielleicht am revolutionärsten und nach Rosenbergs Meinung am Wirksamsten. Stell Dir nur vor, welche Auswirkungen es für die Welt hätte, wenn in der politischen Führung Menschen wären, die in voller Achtung vor ihrer Würde aufgewachsen sind, ihren Fokus auf die Erfüllung der Bedürfnisse aller legen, und tief gewaschen sind mit allen Wassern der Kooperation und friedlichen Konfliktlösung.

Noch ein Ratschlag zum Schluss

Überforderung ist angesichts vieler leidvoller Zustände in der Welt allzu naheliegend und es besteht die Gefahr, dass wir in der Reaktion darauf resignieren, zynisch werden oder uns innerlich lieber dagegen panzern, das Leid überhaupt wahrzunehmen. Dies ist Rosenberg klar bewusst und er gibt deshalb den Rat, dass wir uns immer auch aktiv an das erinnern, was in unserem Leben und im Leben anderer erfüllt ist, dass wir die guten Nachrichten auch wahrnehmen und voll wertschätzen. Das meint er mit ‚feiern‘, wenn er schreibt

„Angesichts des enormen Ausmaßes an gesellschaftlicher Veränderung, der wir gegenüberstehen – Veränderung, die wir gerne erleben möchten – , gibt es eine Möglichkeit von der ich vorhersage, dass sie uns die größtmögliche Hoffnung und Kraft schenken wird, die uns zu den Veränderungen befähigen: Sorgen wir dafür, dass wir lernen zu feiern. Bauen wir das Feiern in unser tägliches Leben ein und handeln wir aus dieser Energie heraus. Das steht an erster Stelle. Andernfalls werden wir überwältigt von der schieren Größe der Probleme. Aus einem Geist des Feierns heraus werden wir nach meiner Erfahrung die Energie aufbringen, um das zu tun, was nötig ist, um die Gesellschaft zu verändern“.

Dieser Blogeintrag ist eine freie und ergänzte Zusammenfassung von M.B. Rosenberg, Das Herz gesellschaftlicher Veränderung, Junfermann 2004.

Kommentare sind geschlossen.